SO36 in Berlin-Kreuzberg: Die Heimat der Punk-Szene (2024)

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An Heiligabend 1981 standen mehrere Hundert Punks im SO36, in der Oranienstraße 190 in Berlin-Kreuzberg. "Weihnachten mit Heino" hieß das Motto des Abends. Es spielten Bands wie Prinz Heinrich und die Engelsärsche, Deutsch Polnische Aggression und Soilent Grün, die kurz darauf Die Ärzte hießen. Die Punks waren frustriert und betrunken. Scheiß-Weihnachten. Bierbüchsen flogen auf die Bühne.

Nur Käthe Kruse, die sich als schwarzer Engel kostümiert hatte, konnte die Punks ein wenig besänftigen. Sie war ein halbes Jahr zuvor aus Westfalen eingewandert und lebte in einem besetzten Haus um die Ecke. Mit stoischer Eleganz spuckte die arbeitslose Arzthelferin Feuer.

Der feurige schwarze Engel mit den Dreadlocks beeindruckte Wolfgang Müller von der Künstlergruppe und Band Die Tödliche Doris dermaßen, dass er Käthe Kruse als Schlagzeugerin anheuerte. Mehrmals hatte sie dann die Ehre, in dem langgezogenen Saal zu trommeln. Heute erinnert sie sich beim Stichwort SO36 an "Lebendigkeit, Energie, Freiheit".

Schräge Nächte in Südost

Seit 38 Jahren ist das SO36 so etwas wie der Berliner Tempel des Punkrock. Hier haben viele zornige junge Männer aus aller Welt und ein paar Frauen laute Musik gemacht, in die Mikrofone gebrüllt und die Gitarren kreischen lassen. Viermal gingen Betreiber pleite. Viermal ging es weiter, bis heute. Gegenkultur, Kultur von unten.

SO36 in Berlin-Kreuzberg: Die Heimat der Punk-Szene (1)

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SO36 in Kreuzberg: Junge Pioniere - die Heimat der Punk-Szene

Foto: A. Andalon

Jetzt ist ein brillantes Buch über das SO36 wieder lieferbar, zusammengetragen von den heutigen Betreiberinnen, ermöglicht durch Crowdfunding, bei dem 26.000 Euro zusammenkamen. Die erste Auflage des zwei Kilogramm schweren und 463 Seiten starken Buches plus DVD mit Dokumentarfilmen und Interviews war schon im Frühjahr dieses Jahres erschienen, aber sofort vergriffen.

Aus dem Buch lässt sich lernen: Das Haus in der Oranienstraße wurde 1861 gebaut. Pläne von 1912 zeigen, dass 200 Gäste im Kinosaal Platz fanden, im Hof gab es einen Biergarten und ein Freilichtkino. 1929 bekam die Gegend die Postleitzahl SO 36, SO steht für Südost. Die Kinos hießen Kinorana, Filmpalast Scala und Kino am Heinrichplatz. Das Haus überlebte den Zweiten Weltkrieg, aber das Kino brannte im März 1966 vollständig aus.

Ein Penny-Supermarkt übernahm den Saal, doch die Kreuzberger waren selbst für den Discounter zu arm, die Räume standen wieder leer. Bis am 11. August 1978 drei junge Westdeutsche das SO36 eröffneten, unter dem Motto "Zwei schräge deutsche Nächte in Südost". Pate stand der Ratinger Hof in Düsseldorf, die Wiege deutscher Punk-und New-Wave-Musik.

Als David Bowie im cremigen Daimler vorfuhr

Die Einrichtung des SO36 verkörperte den Willen zum Stilbruch: Schluss mit den gemütlichen Hippie-Höhlen, stattdessen grelles Neonlicht, weiße Wände. "Dass wir an der Spitze einer Bewegung waren, das haben wir nicht wahrgenommen", sagte Ex-Betreiber Andreas Rohé später. Aber so war es.

Zur Eröffnung kam auch David Bowie. Er fuhr mit seinem cremefarbenen Daimler vor, trug einen weißen Anzug und hatte im Schlepptau seinen sehr betrunkenen Kollegen und Mitbewohner Iggy Pop, der alsbald an der Bar kollabierte.

Als die Betreiber des SO36 schon nach vier Monaten vor der Pleite standen, stieg der Künstler Martin Kippenberger ein, der geerbt hatte. Bald gab es Performances und Filmvorführungen, die Malerin Elvira Bach stellt Gemälde aus. Den Punks, die das SO für sich reklamierten, war die Kunst zu viel und das Bier zu teuer. Immer wieder gab es Randale.

SO36 in Berlin-Kreuzberg: Die Heimat der Punk-Szene (2)

Fotostrecke

Das wilde Jahrzehnt: Hausbesetzer, Punks und Prolls - Westberlin in den 80ern

Foto: Christian Schulz/ Die wilden Achtziger - Fotografien aus West Berlin/ Lehmstedt Verlag 2016

Eines nachts schubste "Kippi", wie ihn seine Partner nannten, die Punkerin Ratten-Jenny in Richtung Ausgang und rief: "Dich wollen wir hier nicht" - wobei die Stieftochter eines Polizeibeamten stürzte, ihr Bierglas zerbrach und sich die Hand zerschnitt. Ratten-Jenny, die gewöhnlich ein weißes Nagetier auf der Schulter herumtrug, revanchierte sich und drückte Kippenberger den Henkel des Glases ins Gesicht.

Kippenberger ließ sich mit verbundenem Gesicht fotografieren und verkaufte eine Montage als Kunstwerk "Dialog mit der Jugend". Ein Titel, der in die Irre führte, denn Kippenberger war 26 und Jenny 23 Jahre alt.

Punks immer willkommen

Schon nach weniger als einem halben Jahr verkauften die Jungs aus Westdeutschland die SO36 Gaststätten GmbH an einen einheimischen Kreuzberger: Der Sozialarbeiter Hilal Kurutan gab dem SO den türkischen Untertitel Merhaba und richtete türkische Discoabende, Hochzeiten und Beschneidungsfeste aus.

Gleichzeitig waren Punkrocker immer willkommen. Wie das CBGB in New York wurde das SO36 zu dem Laden, in dem die ersten Punk- und New-Wave-Bands auftreten konnten. Es spielten PVC, Betoncombo, MDK, Soilent Grün, Die Toten Hosen, Fehlfarben, DAF, Neonbabies und viele andere mehr. Dazu kamen englische und amerikanische Gruppen: Adam and the Ants, Suicide, Exploited, UK Subs, später The Cure, The Fall und New Order.

Die wohl wildesten Konzerte der frühen Jahre gaben die Dead Kennedys aus San Francisco im Oktober 1980 und Dezember 1982. Offiziell dürfen sich 530 Menschen im SO36 aufhalten, bei der Punkband aus San Francisco waren es an die 1000 - und ein paar Hundert, die keine Tickets mehr bekommen hatten, stürmten noch kurzerhand den überfüllten Saal.

Höllischer Lärm, Energie pur

Bei den Konzerten stand ein absolut atemberaubendes Odeur aus Bier, Schweiß und Rauch in dem klaustrophobischen, fensterlosen Saal. Dieser Hexenkessel ließ sich nur durch einen 30 Meter langen, dunklen Tunnel erreichen und verlassen. Der Schweiß kondensierte an der Decke und tropfte auf das erregte Publikum. Dazu höllischer Lärm und Energie pur.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Läden der Zeit war das SO36 weniger ein kommerzielles Unternehmen als ein Ort der Subkultur, des Experiments. Dimitri Hegemann, der später den Techno-Club Tresor gründete und bis heute betreibt, organisierte das Festival "Berlin Atonal".

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Dimitri, selbst Bassist von Leningrad Sandwich, schickte jene Bands auf die Bühne, die bald als "Berliner Krankheit" oder "Geniale Dilletanten" (die Schreibweise war Absicht) bekannt wurden: Einstürzende Neubauten, Die Haut, Sprung aus den Wolken, Die Tödliche Doris, Frieder Butzmann. Etliche Konzerte im SO36 hat Hegemann als "Offenbarungen" in Erinnerung. Es seien "ganz neue Intensitäten und Energien" freigesetzt worden, sagt er heute.

Mitte der Achtzigerjahre übernahmen Aktivisten aus der Hausbesetzerszene das SO36. Immer wieder drohte die Schließung nach Anzeigen von Nachbarn wegen Lärmbelästigung. Seit 1990 hält der Verein Sub Opus 36 das SO über Wasser; von den rund 140 Mitgliedern arbeiten an die 20 Vollzeit. Ein Kollektiv betreibt den Laden.

Das ist unser Haus

"Wir haben keinen Chef, der das Geld nach Hause trägt", sagt Lilo Unger. Gerade sitzt die Veteranin auf einem abgeschabten Backstage-Sofa, sonst steht sie für den Wandel des SO36. Heute umfasst das Programm neben den notorischen Punkrock-Konzerten auch eine Roller Skate Disko, den "Gayhane hom*oOriental Dancefloor" für schwule Muslime, einen "Science Slam - Nachwuchswissenschaftler*innen präsentieren ihre Forschung" und vieles andere mehr.

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SO36 in Berlin-Kreuzberg: Die Heimat der Punk-Szene (9)

SO36: 1978 bis heute

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09.08.2024 22.37 Uhr

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Das New Yorker Pendant des SO36, das CBGB auf der Bowery, wurde 2006 aus dem East Village weggentrifiziert, an seine Stelle trat ein teurer Herrenausstatter. Die Gentrifizierungsgefahr existiert auch in Berlin, ganz besonders in Kreuzberg. Die Betreiberinnen würden das Haus gern kaufen, aber der Eigentümer will es behalten.

Zugleich könnten sich die Betreiber sicher sein, dass die Solidarität im Kreuzberger Kiez und in ganz Berlin enorm sein würde, falls es dem SO36 ernsthaft an den Kragen gehen sollte. Es verkörpert den Geist von Kreuzberg: multikulturell, tolerant, avantgardistisch, hedonistisch. Lilo Unger sagt: "Wir bleiben hier noch lange."

SO36 in Berlin-Kreuzberg: Die Heimat der Punk-Szene (2024)
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